Kitesurfen, Sonnenuntergänge, Berge besteigen, Yachttour – man kann so viel Spektakuläres an einem Sonntag machen. Betonung auf KANN. Man kann es natürlich auch lassen, wie Thibault, der Protagonist dieses Comics. In dem dicken Wälzer nimmt uns Olivier Schrauwen mit in die Gedankenwelt des wohl unspektakulärsten Menschen, den ihr euch vorstellen könnt!
Worum geht es in SONNTAG?
Also nun ja… das lässt sich tatsächlich in einem Wort zusammenfassen: SONNTAG handelt von einem Sonntag. Wenn man mehrere Worte nutzen möchte, lässt sich aber gewaltig ausholen. So steht im Zentrum dieses Wochenabschlusses zwar Thibault, doch in unzähligen Nebenerzählsträngen erfährt man ebenso einiges über seine Freundin Migali und seinen Cousin Rik, und Nora, seine Ex, und eine Ratte kommt auch immer wieder vor.
Unspektakulär und trotzdem spektakulär
Am spektakulärsten fiel mir direkt bei Erhalt des Buches dessen massive Größe auf. Leute, es geht doch nur um einen Typen an einem einzelnen Tag? Was kann man da 475 Seiten drüber erzählen? So viel passiert in Köpfen von Männern doch gar nicht, ODER?
Na gut, wir werden halbwegs eines Besseren belehrt, denn wie bereits angedeutet driftet die Handlung auch in diverse andere Richtungen ab. Denn am Vortag seines Geburtstages macht sich auch Thibaults Freundin Migali auf die Heimreise. Sie war in Afrika und will eigentlich pünktlich zum Fest daheim sein. Ebenso planen Rik und Nora eine Überraschung für den unbeirrten Prokrastinanten vom Dienst.
Denn während alle um ihn herum umtriebig umherirren, passiert bei Thibault herzlich wenig. Ich sollte joggen gehen – es passiert nie. Eigentlich müsste der selbstständige Font-Designer dringend diesen Auftrag fertigstellen – es passiert nie. Garten aufhübschen? Hahahaha. Never. Stattdessen erleben wir seine Reise von Bett, zu Badewanne, zu Küche, zu Sofa. Ein herrlich kleines Kosmos.
Wenn du dein eigener Kosmos bist
Trotz dieses beschränkten Kosmos wird SONNTAG selten langweilig. Vor allem aufgrund der Handlungsstränge, die aufeinander zuzulaufen scheinen. Und je mehr sie das tun, desto mehr zeichnet sich ab, dass in Thibaults Kopf vor allem er selbst die Hauptrolle spielt. Kein Bock auf Rik. Die Beziehung zu Migali ist eher so reine Bequemlichkeit, wirklich Bock geht anders. Einzig an Nora scheint er Interesse zu hegen. Doch dieses Interesse entwickelt sich eher in eine leicht obsessive, dezent narzisstisch geprägte Richtung.
Im starken Kontrast dazu stehen die Charaktere von außen: seine Nachbarin will dem armen Typen, dessen Freundin verreist ist, Essen bringen. Sein Cousin plant eine überraschende Geburtstagsparty. Und selbst Migali, bei der Thibault sich fragt, warum die denn eigentlich ohne ihn verreist, hat im Urlaub offensichtlich die Mission, das perfekte Geschenk für ihn zu finden.
Die Außenwelt dreht sich um ihn. Während sich auch seine Gedanken quasi nur um ihn drehen.
Fazit: Grafisch spektakulär gezeichnete Personenstudie
Was vor allem hervorsticht bei SONNTAG ist die Art und Weise, wie grafische Mittel zur Erzählung beitragen. Zu Beginn des Buches gibt es sogar eine kurze Einweisung darin, wie man den Comic „richtig“ zu lesen hat. Die Texte über jedem Panel geben dabei Thibaults Gedanken wider. Diese sind omnipräsent, auch wenn die Handlung gerade ganz woanders ist. Sein Beruf als Font-Designer fließt immer wieder mit ein, und zeigt wie Buchstaben und Sprache zu unserem Verständnis der Welt beitragen, auch ohne direkte Worte.
Alles in allem hat SONNTAG deutlich länger zum Lesen gebraucht, als ich eingangs von einem Comic über einen gottverdammten einzelnen Wochentag annahm. Aber das Gesamtbild entlohnt dafür. Für tolle grafische Umsetzung und eine am Ende doch mitreißende Handlung gibt’s von mir solide 7 von 10 Punkten!
SONNTAG von Olivier SchrawenLust erschien beim Reprodukt Verlag für 45 Euro und ist überall da erhältlich, wo es was zum Schmökern gibt!
Bildrechte: Sonntag © Olivier Schrauwen / Edition Moderne