Die Serie RENTIERBABY (Baby Reindeer) trendet seit einigen Wochen auf Netflix. Beim ersten Trailer und unter Beachtung der Kategorie „Comedy“ hab ich die Serie zunächst abgetan. Ugh, noch ne komische RomCom oder sowas. Braucht kein Mensch (also ich nicht). Tatsächlich ist die Sache aber ganz anders. Hier geht es um Stalking, Missbrauch und tiefe psychologische Traumata. Als Person, die auch schon vergleichbare Erfahrungen sammeln durfte, habe ich mich dennoch mal rangewagt…
Darum geht es in RENTIERBABY
RENTIERBABY basiert auf dem preisgekrönten Ein-Mann-Stück und Edinburgh-Fringe-Hit „Baby Reindeer“. Die düstere, aber absurd witzige Serie erzählt auf fesselnde Weise die wahre Geschichte von der seltsamen Beziehung zwischen dem erfolglosen Comedian Donny Dunn (Richard Gadd) und seiner Stalkerin, durch die er sich schließlich einem verdrängten Trauma stellen muss. Zur Besetzung zählen auch Jessica Gunning als Martha, Nava Mau als Teri und Tom Goodman-Hill als Darrien.
„Warum haben Sie das nicht eher angezeigt?“
Triggerwarnung: Stalking, sexueller Missbrauch
„Warum haben Sie das nicht eher angezeigt?“
Mit diesen Worten endet die Intro-Szene der Serie RENTIERBABY (ein Name, bei dem es erschreckend lange gebraucht hat, bis ich diesen korrekt aussprechen konnte). Warum, also, hat Protagonist Donny, seine Stalkerin nicht eher angezeigt? Um diese Kernfrage dreht sich die Serie. Gründe gibt es dafür tatsächlich mehrere. Und Menschen, wie der Polizist, die sich in ihrer eigenen Normativität suhlen, verstehen die wenigsten davon.
Denn es liegt doch auf der Hand? Jemand belästigt dich, schreibt dir Tausende E-Mails, gibt dir keine Ruhe. Da muss die Polizei, dein Freund und Helfer, doch etwas tun können. Falsch gedacht. Denn wie auch Donny dann herausfindet, tut die Polizei da herzlich wenig. Aussagen bezüglich des Geschlechts der Protagonisten sind dabei unerheblich. Männer, die von Frauen belästigt werden, werden nicht ernst genommen. Frauen ebenso wenig.
Schreiben ist ja schließlich nichts.
„Kommen Sie wieder, wenn etwas passiert ist.“
(In manchen Fällen ist dann kein Wiederkommen, aber ok, good talk, thanks)
In welche Tradition steht RENTIERBABY?
RENTIERBABY wird bei Netflix absurderweise als „Comedy“ eingeordnet. Es reiht sich ein neben anderen Stalker-Serien wie YOU ein, welche das Thema oft romantisieren. Der gutaussehende Stalker, der sich unsterblich in dich verliebt hat – welche Frau wird da nicht gerne gestalkt. Doch RENTIERBABY dreht diesen Spieß um. Nicht nur wird ein Mann von einer Frau gestalkt, um zu zeigen, wie negativ die Lage hier behaftet ist, ist die besagte Frau auch normativ-unattraktiv. Aber der Fall basiert ja auch auf wahren Begebenheiten und hielt sich deswegen grob an eben jene.
Eine Comedy ist diese Serie jedenfalls nicht. Anstatt des doch eher auf Unterhaltung angelegten YOU erinnert sie deutlich mehr an die großartige Serie I MAY DESTROY YOU. In dieser arbeitet Michaela Coel autobiografisch ihr eigenes Vergewaltigungstrauma auf. Die Ähnlichkeit liegt nicht nur im autobiografischen Aspekt. In beiden Fällen zerstört ein Trauma langsam und nagend, während nach außen der Schein weitestgehend gewahrt wird.
Die Zuschauerschaft weiß mehr als das Umfeld der Person. Man leidet mit, und niemand sieht es. Genau wie der Polizist. Und viele andere. Die Fragen stellen wie „Warum haben Sie das nicht eher angezeigt?“ Warum? Wegen Scham. Wegen der Gesellschaft. Weil ich wusste, wie wenig ich ernst genommen werde. Weil Prävention hier noch mit kleinem b geschrieben wird.
Weil wir Opfern immer noch nicht glauben und ihnen lieber den schwarzen Peter zuschieben.
Die große Schuldfrage
Was RENTIERBABY hier wahlweise gut oder schlecht macht, ist die Beschäftigung mit Marthas Trauma. Ja, ich versteh‘ es, wir schauen uns Menschen holistisch an. Statistisch gesehen sind die meisten Täter:innen selbst mal Opfer gewesen. Aber zu sehr auf die Beweggründe der Täterschaft zu schauen, verwischt auch die Grenzen. Es bringt Opfer dazu, zu hinterfragen. Weich zu werden, sogar Mitleid zu entwickeln. Und gerade von diesem Mitleid hat Donny bereits von Anfang an zu viel.
Sein Mitleid, aber auch seine eigene Orientierungslosigkeit brachten ihn in diese Situation. Das sind Erklärungsansätze. Da aber eben diese nicht hinreichend eingeordnet werden, kann es schnell so wirken, als würde Donny hier auch Schuld tragen. Als habe er es quasi so gewollt. Und schon sind wir in einer Täter-Opfer-Umkehr. Im Rahmen der Serie hätte man hier einen Fürsprecher für Donny in Form eines:r Therapeut:in oder jemanden aus dem Freundeskreis finden können, oder meinetwegen die Eltern – irgendjemand, der Donny noch konkreter darauf hinweist: Du bist nicht schuld.
Fazit: sehenswert, sofern starke Nerven vorhanden
Ich musste beim Gucken von RENTIERBABY mehrfach innehalten. Wir sind hier so weit weg von Comedy wie nur geht. Nicht mal über Donnys schlechte Comedy-Show kann man schmunzeln. Stattdessen unangenehme Déjà-vus. Die nicht aufhörenden E-Mails, oder aber dieser eine Moment … du weißt nicht, woher dein Stalker deine Nummer hat, aber in der Sekunde, in der du abnimmst, weißt du genau, wer am anderen Ende ist.
Personen, die bereits vergleichbare Erfahrungen machen mussten, sollten die Triggerwarnung wirklich ernst nehmen! Alle anderen können abseits von Serien wie YOU vielleicht mal mehr die negativen Aspekte von Stalking wahrnehmen. Ein Fazit in Zahlen scheint hier schwer. Die Umsetzung ist gut. Die Schauspieler:innen machen einen guten Job, die Stimmung ist bedrückend, streckenweise beängstigend, unangenehm.
RENTIERBABY kommt nicht ganz an I MAY DESTROY YOU ran – aber ist definitiv eine solide Darstellung traumatischer Ereignisse. Wie viel davon wirklich wahre Begebenheiten sind, und wie viel hinzugedichtet, ist dabei natürlich nicht ganz klar.
Ich gebe einfach mal 8,5 von 10 Punkten
Bist du Opfer von Stalking?
Dann schenk dir denn sinnlosen Ganz zur Polizei. Lass dich lieber hier beraten: Opfer-Telefon 116 006
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